Was an jenem 16. November vor drei Jahren genau passiert ist, weiß Hans-Jürgen Kussmann (69) nicht mehr. Er kennt die dramatische Geschichte nur aus Erzählungen: Wie fast jeden Tag kommt der Rollstuhlfahrer zum Mittagessen in die Kantine der BIG-Krankenkasse am Dortmunder U.
Danach hält er ein kurzes Nickerchen am Foyer-Fenster und rollt anschließend in Richtung Toilette. Eben wie immer. Doch dann kommt alles ganz anders.
Iwona Pedde (46), eine der Damen am Empfang und Mitarbeiterin der Sicherheitsfirma Wisag, hat ein geschultes Auge dafür, wenn etwas nicht stimmt. Und hier ist augenscheinlich etwas nicht richtig. Die Ecke ist falsch, in der Kussmann zu schlummern scheint. „Nie im Leben schläft er da“, denkt sie, schaut nach, misst seinen Puls – und spürt nichts.
Viereinhalb lange Minuten
Sofort zieht sie Kussmann mit Hilfe eines Kollegen aus dem Rollstuhl auf den Boden und beginnt umgehend mit der Herzdruckmassage. Es dauert nur viereinhalb Minuten, bis der Notarzt und die Rettungssanitäter eintreffen, „doch es kam uns vor wie eine Ewigkeit“, erinnert sich Iwona Pedde.
Marion Hinkel (54), ebenfalls vom Empfang, ist ihrer Kollegin zur Hilfe geeilt, wechselt sich mit ihr bei der Reanimation ab. Ebenso mit Janine Ostermeier (43), Sachbearbeiterin bei der BIG. Sie geben ihr Bestes, wissen aber nicht, ob es reicht. Sechs Rettungskräfte kämpfen länger als eine halbe Stunde vor Ort um das Leben des Rentners, ehe sie ihn ins Klinikum transportieren können.
Er war klinisch tot
„Wenn ich damals zu Hause gewesen wäre, wäre ich schon drei Jahre tot“, sagt Kussmann heute. Er war so gut wie tot. Klinisch tot. Dass es ihm wieder gut geht, er nichts zurückbehalten hat und am Freitag (22.11.) wie jedes Jahr – wenn auch dieses Mal ein paar Tage verspätet – seinen neuen Geburtstag mit seinen Lebensretterinnen feiern kann, hat Hans-Jürgen Kussmann einer Verkettung glücklicher Umstände zu verdanken.
Es ist passiert an einem Ort mit drei Krankenhäusern im Umkreis; im Gebäude einer Krankenkasse, bei der Mitarbeiterinnen einer Sicherheitsfirma am Empfang sitzen. Und dann noch so aufmerksame wie Iwona Pedde.
Erst eine Woche zuvor hatte sie einen Erste-Hilfe-Kurs gemacht. „Du warst mein erster Kunde“, lacht sie, „und ich habe es überlebt“, bringt er den Satz zu Ende. Seitdem ist man beim Du.
Als Kussmann mit dem Tod rang, wurde nebenan im Saal der Ablauf einer großen Personalversammlung geprobt. Personalratsmitglied Janine Ostermeier war dabei und deshalb als Ersthelferin sofort zur Stelle, als man sie brauchte.
Über Whatsapp verbunden
Solch ein dramatisches Erlebnis schweißt zusammen. Als Kussmann drei Monate nach dem Herzstillstand aus der Reha kommt, gilt einer seiner ersten Besuche seinen drei Engeln. Er bringt Sekt zum Anstoßen mit. Alkoholfrei. Nicht aus Gründen der Gesundheit. „Wir dürfen hier keinen Alkohol trinken“, sagt Iwona Pedde.

Genau an dieser Stelle hat Hans-Jürgen Kussmann vor drei Jahren einen Herzstillstand erlitten. © Gaby Kolle
Seit seinem Tod, wie er sagt, kommt der ehemalige Schlosser nicht nur an seinen „Geburtstagen“ mit einem Fläschchen vorbei, sondern schaut auch zwischendurch mal rein, obwohl er nicht mehr in der Kantine so essen kann wie früher. „Er muss aufpassen“, weiß Iwona Pedde. Als er zwischenzeitlich wieder im Krankenhaus lag, hat Marion Hinkel ihn besucht. Sie sind auch über Whatsapp verbunden.
Hans-Jürgen Kussmann kann seinen Retterinnen gar nicht genug danken. Doch er hat eine beruhigende Erfahrung gemacht: „Das Paradies war schön. Mit Weinbergen und dicken Trauben.“ So ein Traumbild hing in seinem Krankenzimmer. Daran erinnert er sich noch.
Stellvertretende Leiterin der Dortmunder Stadtredaktion - Seit April 1983 Redakteurin in der Dortmunder Stadtredaktion der Ruhr Nachrichten. Dort zuständig unter anderem für Kommunalpolitik. 1981 Magisterabschluss an der Universität Bochum (Anglistik, Amerikanistik, Romanistik).
