
Wie viel Leid hält ein Mensch aus? Diese Frage schreit aus jedem Satz, mit dem Philipp Francke (54) aus der Region Chersons berichtet. Mit der Befreiung von der russischen Besetzung vor einigen Wochen schien sich doch alles zum Besseren zu wenden. Zumindest haben wir das gedacht, aus der Ferne.
Francke, der für die Csilla von Boeselager Stiftung Pate der Hilfsaktionen für die Region Cherson ist, weiß es besser. Immer wieder ist er vor Ort. Auch jetzt. Als er unserer Redaktion von der Region Cherson erzählt, telefoniert er von Odessa aus. „Auch hier gibt es, seit ich vor einer Woche hier angekommen bin, keinen Strom, kein Wasser, keine Heizung.“

„Alle Augen sind im Moment auf Cherson gerichtet“, sagt Francke, „aber in der Stadt selbst ist es gar nicht so dramatisch, auch wenn sie augenblicklich unter Beschuss steht.“ Viel schlimmer sei es in den Städten und Dörfern um Cherson herum. Die seien zu 100 Prozent zerstört: „Da hat kein Haus ein Dach, kein Haus Fenster, keines hat Strom oder Wasser. Dazu herrscht inzwischen schon eine Eiseskälte.“
Und die Freude über die Befreiung von der russischen Besatzungsmacht sei längst verzweifelter Ernüchterung gewichen: „Die Besatzungszeit haben die Menschen als grausam und fürchterlich erlebt, aber sie bekamen wenigstens hin und wieder mal ein Brot. Seit der Befreiung, die hier victory genannt wird, bekommen sie ganz einfach nichts mehr, gar nichts.“, sagt Francke.
Und diese nackte Überlebensangst treffe auf Menschen, die ohnehin schon Unvorstellbares hätten ertragen müssen. Francke erzählt von den Gesprächen, die er mit einigen Frauen in den Dörfern geführt habe. „Jeder Mensch hat dort ein Schicksal, das man sich kaum vorstellen kann: ,Ja, ich habe gestern meinen Mann im Garten vergraben, ich hab‘ seine verbrannte Leiche wiederbekommen. Ich hab‘ ihn erkannt an der Tätowierung‘“, habe eine Frau erzählt.
Eine andere berichtete ihm, so gibt er es weiter: „Letzte Woche habe ich meine ganze Familie verloren. Bei meinem Nachbarn ist eine Rakete reingeflogen, dann haben wir die beiden zu uns genommen. Dann konnten sie wieder in ihr Haus ziehen, weil wir Plastikplanen darüber gebreitet hatten. Und dann ist noch ne Rakete reingeflogen. Dabei ist die Frau gestorben, die hat der Mann dann auch im Garten verbuddelt.“

Wie viel Leid kann ein Mensch ertragen? „Das sind so Sachen. Wenn eine Frau einem das face to face erzählt, geht einem das durch Mark und Bein. Und wirklich jede Person, die ich hier treffe – und ich sehe viele – hat solche Erlebnisse gehabt“, sagt Francke.
Für ihn ist klar: „Wir steuern auf eine Hungersnot zu, zumal es für die größeren Hilfsorganisationen wegen der eigenen Sicherheitsbedingungen schwierig ist, in diese Städte und Dörfer zu den Menschen zu kommen.“ Das schaffe in der Region rund um Cherson derzeit nur die Hilfsorganisation „New Dawn“, die von der Boeselager Stiftung unterstützt wird, sagt Francke, der als Pate das Verbindungsglied zwischen Stiftung und New Dawn ist.

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Csilla von Boeselager Stiftung Osteuropahilfe
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Francke nimmt diese Aufgabe ehrenamtlich wahr. Er lebt mit seiner Familie in Brüssel und leitet dort eine Industrievertretung. Aber, sagt er, seit Corona könne er den Großteil der Arbeit aus dem Homeoffice heraus erledigen. Da seine Frau für die EU in Griechenland arbeite und seine Kinder aus dem Haus seien, könne er es sich erlauben, immer mal wieder für zwei, drei Wochen in die Ukraine zu fahren und dort zu helfen.
So habe er zu Beginn des Krieges, als er eine Hilfslieferung in die Ukraine begleitete, Julia Pogrebnaya kennengelernt. „Ich habe in ihr sofort eine goldene Person gesehen. Im Laufe der Monate habe ich mit ihr nach und nach eine Hilfsorganisation aufgebaut, New Dawn eben. Wir haben die Organisation nach internationalen Standards ausgerichtet, damit wir auch internationale Partnerschaften eingehen können“, sagt Francke.
Im Matschfeld gestrandet zwischen zwei Minenfeldern
Er freut sich: „Das haben wir sehr erfolgreich hinbekommen. Jetzt ist New Dawn die schlagkräftigste und größte Organisation im Südosten der Ukraine, ist ganz modern aufgebaut, hat eine unglaubliche Helfermentalität. Das habe ich noch nie erlebte, solche selbstlosen Menschen.“
Im Kern arbeiteten etwa 80 Menschen ehrenamtlich für New Dawn. „Aber wenn Not am Mann ist, sind auch 220 Helfer da“, sagt Francke beim Telefonat, bei dem eigentlich auch Julia Pogrebnaya, die unsere Redaktion bereits Tage zuvor sprechen konnte, am Telefon dabei sein sollte, aber: „Wir waren gestern auf einer field mission. In einem Matschfeld, wo links und rechts Minenfelder liegen, sind wir stecken geblieben. Julia ist los, um zwei Wagen vom Team da rauszuholen.“ Kriegsalltag in der Ukraine.

„Field mission“, so heißt das, wenn die Helfer von New Dawn Pakete in die Dörfer bringen, in die sonst niemand kommt und in die sei Beginn des Krieges noch kein ziviler Helfer gekommen ist, außer New Dawn.
„Durch die Stiftung können wir es uns erlauben, gezielt sehr gute Lebensmittel zu kaufen. Keinesfalls luxuriös, aber gut. Hygieneartikel, abgestimmte, angepasste Nahrungsmittelpackungen.“ Pro Ausfahrt könne man zwischen 600 und 800 Familien bedienen.
Wenn Helfer von New Dawn in einen Ort kommen, verteilen sie nicht nur Hilfspakete, sondern sammeln auch Informationen: Es wird eine genaue Bestandsaufnahme gemacht, was in welchem Dorf fehlt.
„Kein Internet, kein Strom, kein Wasser. Wieviel Leute, wie viele behinderte Menschen? Was muss gemacht werden? Was ist ganz, ganz dringend? Wo muss interveniert werden?“, listet Francke auf. „Wie viele Menschen leben da, wie viele Kinder? Gibt es Kinder, die besondere Nahrung benötigen? Werden besondere Medikamente oder Hygieneartikel benötigt?“

Einkaufen könne man seit neuestem auch in der Ukraine. „Das wird ausgeschrieben, dann werden Angebote reingeholt – es sind ja größere Mengen. Es werden monatlich so rund 100 Tonnen verteilt an Hygiene- und Nahrungsmitteln. Und dazu gibt es natürlich noch Sachspenden“, sagt Francke.
New Dawn hat inzwischen eine detaillierte Übersicht über 70 Dörfer in der Region und weiß, wie viele Familien dort leben. Sie zu erreichen, ist schwierig. Um die Logistik des Warentransports bis zum zentralen Lager kümmerten sich die Johanniter, die die gesamte Logistik von New Dawn unterstützen. Für die letzte Verteilung bis in die kleinen Dörfer sorgt dann New Dawn. Und das sei eine extrem anspruchsvolle Aufgabe.
In der Regel fahre man von Odessa los. Eine Tagestour sei rund 300 Kilometer lang, erzählt Francke. „Von Odessa aus sind es immer rund 300 Kilometer, aber es sind eben keine 300 Autobahn-Kilometer, sondern es sind Matschwege mit Bombeneinschlägen, mit Raketen drin, die aus dem Asphalt gucken, mit Militärkontrollen und Umwegen, zerbrochenen Brücken, wo man nicht rüberkommt. Gestern sind wir um 6 Uhr morgens losgefahren und waren um 11 Uhr abends wieder zurück und das für eine Verteilungsaktion von zweieinhalb Stunden.“

Rückkehrer in Nichts
Warum leben in diesen abgeschiedenen, zerstörten Orten überhaupt noch Menschen? Warum sind sie nicht längst geflohen? „Weil sie einfach nicht wissen, wohin sie flüchten sollen“, sagt Francke. „Für viele gibt es kein Wohin.“ Aus der Ferne kaum zu verstehen, gebe es sogar, sagt Francke, „Rückkehrer“.
Rückkehrer? Wer will denn an einen solch lebensfeindlichen Ort ohne Strom, Wasser, Heizung, Nahrung zurück? „Als ich weggefahren bin“, antwortet Francke, „hörte ich, in Deutschland würden jetzt im Winter wieder viele Flüchtlinge kommen. Das kann ich hier nicht feststellen. Es kommen immer mehr Leute zurück, sogar mit Kindern und Jugendlichen. In Orten, wo ich vor Wochen schon mal war und wo 20 ältere Menschen lebten, sind jetzt wieder Kinder und Familien, aber: Sie stehen vor dem Nichts. Sie kommen zurück nach Hause, aber es gibt kein Zuhause mehr.“

New Dawn verteilt aber nicht nur Hilfspakete, sondern hilft auch auf anderen Wegen. Francke erzählt ein Beispiel: „Gestern waren wir in einem Ort, wo ich danach entschieden habe: Wir müssen versuchen, mithilfe der Stiftung hier eine provisorische Winter-Unterkunft zu bauen. Da sitzen wirklich 90 Menschen auf Ziegelsteinen tagein, tagaus. Und zwar in Lumpen und das ist keine pathetische Übertreibung, sondern die Wahrheit. Die haben Filzpantoffeln mit Löchern und zerfetzte Sachen an.“
Oder ein anderes Beispiel: „In einer Kleinstadt in der Nähe von Cherson, Chornobayivka, steht ein Generator für die Wasserversorgung. Ein sinnvolles Projekt wäre es, das müssen wir finanziell irgendwie hinkriegen, dort einen ganz großen Generator hinzustellen. Der könnte nicht nur 20 umliegende Dörfer, sondern auch die Wasserpumpen wieder mit Strom versorgen. So könnte die Wasserversorgung für die Stadt Cherson wieder instandgesetzt werden. Da fahren jetzt nur Linienbusse, die den Menschen Wasser bringen“, sagt Francke.

Es gibt viele lange Excel-Tabellen, in denen New Dawn penibel aufgelistet hat, welche Hilfsmittel benötigt werden. Da geht es um Transformatoren, um Generatoren, um Telefone, Transporter, Krankenwagen und um unendlich viele andere Dinge. „Es gibt nichts, wirklich nichts mehr“, sagt Francke, „die Russen haben beim Abzug alles mitgenommen und das ist exakt wörtlich zu nehmen.“
Und ausgerechnet jetzt, wo mehr als jemals zuvor Hilfe benötigt wird, erlahme die Spendenbereitschaft vieler Menschen. Das spüre man deutlich. Das sei zwar menschlich verständlich, aber höchst bedauerlich, sagt Francke und appelliert an die Spendenbereitschaft der Menschen bei uns: „Ich kann versichern, weil ich es selbst vor Ort erlebe, und verbürge mich dafür, dass wirklich jeder Euro, der der Boeselager-Stiftung gespendet wird, hier bei den Menschen ankommt.“

Helferin Julia Pogrebnaya: Im Seidenkleid im Schützengraben
„Mehr noch“, sagt Francke, „weil wir auch immer Spenden von anderen mit in die abgeschnittenen Dörfer nehmen, wirkt eine Spende doppelt. Und in der Stiftung geht kein Cent durch Verwaltungsarbeit verloren, wir arbeiten alle ehrenamtlich.“ Es wäre doch wunderbar, wenn die Menschen aus unserer Region durch ihre Hilfsbereitschaft eine Brücke zu den von Krieg und Elend gebeutelten Menschen in der Region Cherson bauen würden, meint Francke.
New Dawn sei dabei ein „unglaubliches Team“, das wirklich dafür sorge, dass die Hilfe genau da ankomme, wo sie am nötigsten gebraucht werde. Dafür stehe auch Julia Pogrebnaya gerade, die Gründerin und Leiterin von New Dawn. Philipp Francke sagt über sie: „Julia ist eine außergewöhnliche Frau. Die Leiterin von New Dawn ist Entwicklungshelferin und Kämpferin für das Gute. Sie fliegt Hubschrauber, übernachtet im Seidenkleid im Schützengraben und führt die Organisation mit Herz und eiserner Sparsamkeit. Alles für die Notleidenden. Wenn es zu gefährlich für ihr Team ist – wegen Minen oder Beschuss – macht sie es selbst. Hauptsache die Hilfe kommt an.“
Übrigens: Bei der seit Anfang März laufenden Hilfsaktion unseres Verlages in Kooperation mit der Csilla von Boeselager Stiftung für die vom Krieg gemarterten Menschen in der Ukraine sind inzwischen rund 400.000 Euro zusammengekommen.